…die Suche nach der Einfachheit in der Landschaft
Slow-Photography – wörtlich übertragen „das langsame Fotografieren“. Gerne wird der Begriff mit Langzeitbelichtungen in Verbindung gebracht, da diese einen höheren Zeitaufwand erfordern, wo durch das Fotografieren für sich genommen deutlich langsamer von statten geht. Doch stellen wir die Fotografie vorab in den Hintergrund und wenden uns dem Slow in seinem Grundgedanken zu.

Slow steht für „sich bewusst Zeit zu nehmen“, innezuhalten – zu fokussieren. Die Wahrnehmung von Geist (= Gedankengänge) und Körper konzentriert sich auf das Wesentliche des Augenblicks in unserer Umgebung. Ähnlich wie beim Slow-Food, -Gardening, -Home, -Living bis hin zu Slow-Culture. Entschleunigen steht hier für das bewusste Reduzieren der Alltagsgeschwindigkeit. Durch gezielte Langsamkeit, die jeweilige Tätigkeit bewusster wahrzunehmen.



In einer Zeit, in der wir von allen Seiten über die verschiedensten Kanäle medial berieselt werden, fällt es schwer sich auf eine bewusste Wahrnehmung einzulassen bzw. sich diese Zeit zuzugestehen. Die japanische Zen-Meisterin Shundo Aoyama beschreibt dies in „Pflaumenblüten im Schnee“ auf sehr eindrücklich Weise:
Solange die Ereignisse des Alltags unsere Gedanken besetzen, sprechen diese Dinge nicht zu uns. Das heißt nicht, dass sie stumm sind – wir haben nur kein Ohr für sie, solange wir intensiv mit der äußeren Welt befasst sind.
Genau wie mit den Ohren verhält es sich mit den Augen. Sobald unser geistiges Auge klar ist, sehen wir alle Dinge und Wesen ganz natürlich, so, wie sie sind. Aber solange wir in den Vorgängen der Außenwelt gefangen sind, wird unsere Aufmerksamkeit von hier nach da gelenkt und von da nach dort, und deshalb ist unsere Wahrnehmung beschränkt, so dass wir weder sehen, was zu sehen wäre, noch hören, was zu hören wäre.
E-n-t-s-c-h-l-e-u-n-i-g-u-n-g – verhilft uns zu einem Gleichgewicht zwischen Aktivität und Ruhe, schöne, natürliche wie berührende Dinge zu entdecken. Für mich ein Weg, wie ich mein Schaffen dem Rhythmus der Natur im Verlauf der Jahreszeiten anpassen kann, um für mich authentische wie erfüllende Erlebnisräume zu erschaffen.



Slow down
Slow down – das Verweilen im Augenblick, in Momenten der Ruhe und Stille. Die so oft unbemerkte Schönheit wie Einfachheit oder auch Vergänglichkeit der Natur sowie in den aus ihr hervorgehenden Landschaften zu entdecken. Oder wie es der chinesische Philosoph Shen Dao (ca. 350 – 275 v.u.Z.) einst formulierte: „Wer das Geheimnis der Natur verstehen will, muss lernen, ruhig zu wandeln.“
Mit dem Erleben von Natur und Landschaft in ihrem ureigenen, langsamen Rhythmus wird das Werden und Vergehen im Jahreskreis sichtbar. Mit jedem neuen Zyklus, in den wir eintauchen, lassen sich diese Erlebnisse mit „allen“ Sinnen bewusst wahrnehmen. Erlebnisse – Erfahrungen, die das Leben mit Achtsamkeit eröffnet, lässt Ruhe inmitten von Chaos finden. Ebenso lässt sich Einfachheit und Schönheit entdecken, die sich mit der Veränderung und Transformation der Natur zeigt.

Erleben bzw. Erlebnisse setzten ein bewusstes Wahrnehmen voraus. Das sagt sich so selbstverständlich, doch wie nehmen wir Landschaft wahr? Verkürzt formuliert, aus der Ferne mit den Augen um den Raum sowie mit den Ohren für die Geräuschkulisse zu erfassen. Wenn wir sie betreten, gesellen sich die Nase für den Geruch, der Mund für den Geschmack sowie der Tastsinn über die Haut hinzu. Das umfasst die physische Wahrnehmung mit den fünf Sinnen, die sich nach dem griechischen Philosophen Platon (ca. 428 – 347 v.u.Z.) in Fern- und Nahsinne bzw. höhere und niedere Sinne unterscheiden.


Salzwiese:
- Sehen: Wiese, Wasser, Horizont, Himmel, Wolkenzieren, Brücke, Schafe
- Hören: stilles Surren des Windes, Gänsegeschnatter, Vogelgezwitscher, leises Blöken der Schafe
- Riechen: salzige Luft, feuchter modderiger Boden
- Schmecken: salzig, frisch
- Tasten: festen Boden, warmen Luftzug
Klamm:
- Sehen: Fels, Moos, fließendes Wasser
- Hören: lautes ohrenbetäubendes Rauschen, Gurgeln, Glucksen, das Aneinanderschlagen des Kieses im Flussbett
- Riechen: modrig, feucht
- Schmecken: nass, steinig
- Tasten: hart, uneben, kalt, nass
So weit so gut – das, was wir vor uns sehen, mag zwar der physischen Realität entsprechen, jedoch nehmen wir diese nicht nur physisch wahr. Wodurch wir die Landschaft in aller Regel mehr subjektiv als objektiv wahrnehmen: subjektiv, je nach Interessenlage gefiltert bzw. reduziert. Wir reduzieren das, was wir wahrnehmen auf das Wesentliche. Dieses orientiert sich mit dem Alltagsblick auf Zweckmäßigkeit sowie Funktionalität, weniger auf schönes, stimmungsvolles – die Seele berührendes. Dieser zweite Schritt der Wahrnehmung setzt sich neben der aktuellen Interessenlage aus individuellen Erlebnissen und Erfahrungen zusammen. Dadurch entwickeln wir unser Verhältnis und Verständnis zur Natur bzw. Landschaft, die uns umgibt. Ebenso basiert unsere Wahrnehmung auf kollektiv gesammelten Erfahrungen, die unsere Altworden im Laufe der Evolution in ihrem naturgegebenen Lebensraum sammelten. Daher unterliegt die Wahrnehmung von Natur und Landschaft neben geografischen Gegebenheiten, kulturellen Einflüssen wie auch gesellschaftlichen Interessen.
Komme ich auf den Blick über die Salzwiesen und durch die Klamm zurück. Neben den oben genannten Sinnen gibt es weitere Sinne, die allesamt einer subjektiven Wahrnehmung unterliegen. Sie sind im Gegensatz zu den fünf oben genannten Sinnen weder messbar noch auf andere Art und Weise quantifizierbar. Am bekanntesten ist wohl die Intuition bzw. das Bauchgefühl. Hinzukommen kommen beispielsweise der Orientierungs- wie auch der Schmerzsinn oder das Gleichgewicht beim Balancieren über einen umgestürzten Baumstamm, der über einen Bach führt.
Salzwiese:
- Frei Sichtachse in alle Richtungen
- Weite
- Lichtdurchflutet
- Wohlfühlen
- herzerwärmend
- Freiheit
Klamm:
- begrenzte Sichtachse
- enge – niedrige Durchgangshöhen
- Dunkelheit
- bedrohlich
- beklemmend
- Unwohlsein
Auf alle diese unzähligen Eindrücke, die wir bewusst wie unbewusst wahrnehmen, regieren wir! Nehmen wir Stimmungen wahr, die wir allgemein als die Atmosphäre vor Ort bezeichnen. Sie bildet sich aus einer unvoreingenommenen Wahrnehmung, frei von Erwartungshaltungen an dem Ort, an dem wir uns aufhalten. Nicht zu verwechseln mit der gasförmigen Hülle der Erde (= Erdatmosphäre). Die Atmosphäre umfasst dabei gleichermaßen die Aufmerksamkeit auf die Sinneseindrücke im Außen, wie auch auf die im Inneren, die sich häufig nur schwer in Worte fassen lassen. Die Besonderheit darin liegt in dem Umstand, dass wir Räumen oder Menschen gegenüberstehen, während wir in der Landschaft mittendrin stehen: Teil des Ganzen sind, körperlich wie geistig.

Slow-Photography
Slow-Photography mit dem Blick auf den Grundgedanken von Slow, eröffnet mir in einer zunehmend hektisch werdender Alltagswelt kreative Rückzugsräume, in dem der Zauber des Ursprünglichen und Einfachen für mich den Mittelpunkt bildet. Ebenso ist es für mich ein Weg, um Natur wertzuschätzen, wie auch zu mir selbst zu finden.
Die Herausforderung – Kunst liegt in dem Erfassen und nicht zuletzt auch dem Transportieren der Atmosphäre die ich vor Ort wahrnehme. Ähnlich wie die zielsichere Handhabung der Kameratechnik, bedarf es auch bei der unvoreingenommenen Betrachtung der Landschaft ohne Erwartungshaltung an Übung. Um offen annehmen zu können was mich bei der Ausschau nach Landschaftsmotiven erwartet, versuche ich mich viel draußen zu bewegen, zu beobachten. Auch um festzustellen, wie verschiedene Landschaftselemente über das Jahr, bei unterschiedlichem Licht auf mich wirken. Dabei verzichte ich von Zeit zu Zeit bewusst auf meinen Fotorucksack samt Stativ.
Draußen unterwegs beim Erkunden und Entdecken in der Landschaft nehmen wir unsere Umgebung auf vielfältige Weise wahr. Zum einen ist da die uns umgebende Landschaft mit ihren physischen Elementen, wie beispielsweise Bergen, Tälern, Wäldern und Lichtungen, Fließgewässer, stehende Gewässer sowie die Küste, die wir mit den erwähnten fünf Sinnen erfassen. Gleichsam treten wir mit ihr in Kontakt, in dem wir den Boden unter unseren Füßen spüren – fester Fels, weicher nachgebender Moorboden, oder im Wasser eintauchend beim Durchqueren eines Bachlaufs. Ebenso spüren wir nasse Gräser und Zweige auf Haut, Hose und Jacke, den Wind wie er uns an den Händen oder im Gesicht berührt. Berührungen – Kontakte die wir als selbstverständlich registrieren, doch selten bewusst wahrnehmen. Und doch sind sie für uns mit ausschlaggebend, um die Atmosphäre vor Ort zu ergründen.

In der Landschaft auf Motivfindung, genieße ich es mit Zeit und Muße unterwegs zu sein. Kommt dabei immer ein Bild raus? Definitiv nein! Mal bin ich es der den Zugang zur Landschaft nicht findet, ein andermal ist es die Landschaft, die sich nicht portraitieren lassen möchte. Hinzu kommt, dass es Zeit braucht, bis sich innere Bilder formen. Gelegentlich prägt sich das Bild auch erst nach mehrmaligen Besuchen eines Ortes ein. Manchmal braucht es auch ein Maßnehmen, bis ich die Position gefunden habe, die meinem inneren Bild gleichkommt. Ganz zu schweigen von dem Licht…

Wenig hilfreich empfinde ich es dabei Sinneseindrücke vor Ort zu bewerten. Beispielsweise wenn die Witterung nicht so mitspielt, wie vom Wetterbericht vorhergesagt: zu, nass, zu matschig, zu warm, zu viel Sonne, etc. Bewertungen, die vermitteln, dass es nicht so ist wie erwartet – wie es sein sollte! Maßstäbe, die ein unvoreingenommenes Entdecken beeinflussen oder gar verhindern. Gleiches gilt auch für den unentwegten Blick auf das Handydisplay. Sei es um „abzuchecken“, ob man auch ja die gleiche Perspektive abfotografiert wie auf der Plattform X oder in Forum Y dargestellt, oder parallel am Chatten ist.
Die Idee des Slow mit Blick auf die Fotografie ist neben der bewussten Wahrnehmung, für mich auch der Versuch, mich sowohl der medialen Bilderflut zu entziehen wie bei der Wahl meines Bildausschnitts zu reduzieren – konzentrieren – fokussieren. Der bewusste Verzicht, entpuppt sich für mich mehr und mehr als ernstzunehmender Zugewinn.

P.S.: Übrigens lässt es sich auch unterwegs auf Reisen slow fotografieren. Auch hier gilt: weniger ist mehr! 111 Highlights in XY mögen dazu verleiten To-Do-Listen abzuarbeiten. Doch wie steht es dabei um das unvoreingenommene Erlebnis? Reisen „ist“ in erster Linie ein Erlebnis! Lassen wir dieses nicht zum Abarbeiten von To-Do-Listen verkommen…



Umschreiben wir in unserer westlichen Kultur innehalten und bewusste Wahrnehmung als „kontemplative Pause“, bietet der Blick auf fernöstliche Philosophien weitaus mehr praktische Ansätze, sich der Langsamkeit zuzuwenden. Beispielsweise lassen sich Denkweisen aus dem Zen-Buddhismus gut auf die Fotografie übertragen. Die Wahrnehmung von Schönheit sowie Vergänglichkeit und des unperfekten findet sich in Wabi-Sabi wieder. Die japanische Philosophie des Ikigai lässt sich am besten mit „wofür es sich zu leben lohnt“ beschrieben und vermittelt ebenfalls interessante Impulse, um den Blick für die Fotografie zu verfeinern.
Gerne werden die S/W-Aufnahmen des britischen Landschaftsfotografen Michael Kenna mit Slow-Photography in einem Atemzug genannt. Das bezieht sich aus meiner Sicht nicht nur auf seinen Bildband „Forms of Japan“ bzw. die Japan-Galerie auf seiner Webseite. Seine Aufnahmen bieten eine gute Inspiration sich der Reduzierung und Einfachheit im Bildaufbau zuzuwenden.
In der Sendereihe TWIƧT auf ARTE berichtet die in Leipzig lebende Fotografin Ricarda Roggan neben anderen Kunstschaffenden in dem Beitrag „Slow down – wie geht langsames Leben?“ über die bewusste Langsamkeit in der Fotografie.
Lust auf mehr Slow-down im alltäglichen Leben bekommen? Die Web-Seite slowpreneur von Anna Niermann bietet nicht nur für Selbständige lohnen- wie lesenswerte Einblicke.
Literaturimpulse zum Vertiefen…
- Pflaumenblüten im Schnee
Shundo Aoyama | ISBN 3‐89620‐186‐7 - Wabi-Sabi. Woher? Wohin? Weiterführende Gedanken
Leonard Koren | ISBN 978-3803032188 - ZEN in der Kunst der Fotografie
Robert Leverant | ISBN 978-3734730702 - Der achtsame Blick: Kreativ Fotografieren mit Inspiration
Sophie Howarth | ISBN: 978-3038762379 - Im Augenblick. Ein Wegweiser zu achtsamer Fotografie
Paul Sanders | ISBN: 978-3791393933 - ZEN – Der Weg des Fotografen
David Ulrich | ISBN: 978-3864906138 - Bewusster fotografieren: Ein Wegweiser zu Achtsamkeit, Kreativität…
David Ulrich | ISBN: 978-3864909740